Panel 6 – Die Zukunftsorientierung des internationalen Rechts


Dr. Jochen Rauber


Habilitand, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Geboren 1984, Studium der Rechtswissenschaft und der Philosophie an der Universität Tübingen und am Trinity College Dublin (Erste Juristische Prüfung 2010; B.A. in Philosophie; 2010). 2010-2015 akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Internationales Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie der Universität Heidelberg (Prof. Dr. Bernd Grzeszick, LL.M.); Forschungsaufenthalte am Lauterpacht Centre for International Law, Cambridge, und am DFG-Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staates“ an der Humboldt Universität zu Berlin; 2014-2016 Referendariat im OLG-Bezirk Karlsruhe mit Stationen u.a. an der DHV Speyer und am Bundesverfassungsgericht; 2016 Promotion an der Universität Heidelberg mit einer völkerechtstheoretischen Arbeit; seitdem Habilitand ebendort.

Verschiebungen im Zeithorizont des Völkerrechts

Erscheinungsformen und Probleme völkerrechtlicher Zukunftsorientierung

Strukturell ist Recht notwendigerweise zukunftsbezogen: Es etabliert Handlungsvorgaben, um zukünftiges Verhalten zu steuern. Inhaltlich jedoch ist sein Zeithorizont flexibel: Es steht einer jeden Rechtsordnung frei, ob sie vergangene Verhaltensweisen auch künftig für verbindlich erklärt oder stattdessen eine Zukunft entwirft, die das Bekannte hinter sich lässt. Im Laufe der völkerrechtlichen Entwicklung hat sich dieser inhaltliche Zeithorizont verschoben. Zunehmend löst sich die Völkerrechtsordnung von einem rein formalen Gerechtigkeitsverständnis, bildet stattdessen eine substantielle Gemeinwohlvorstellung aus und wandelt sich so zugleich von einer im Wesentlichen bestandswahrenden zu einer zukunftsgestaltenden Ordnung.

Dogmatisch bleibt diese Verschiebung nicht folgenlos: Auf Ebene der Rechtsquellen nimmt die Bedeutung des Völkergewohnheitsrechts ab, diejenige des Völkervertragsrecht hingegen wächst; auf norminhaltlicher Ebene ersetzen oft positive Handlungspflichten die bisher vorherrschenden Verbotsnormen, teilweise treten sogar Finalprogramme ohne konkrete Verhaltensanweisungen an die Stelle konditional strukturierter Normsätze und auch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe nimmt zu. Das damit auch Schwierigkeiten entstehen, wird vielfach moniert: Der Übergang zu bloßen Finalprogrammen und die Zunahme unbestimmter Rechtsbegriffe schwäche die Steuerungskraft des Völkerrechts, weil es Handlungsentscheidungen nicht mehr in gleichem Maße programmiere wie zuvor.

Bis hinein in Erscheinungsformen und Kritik findet diese Skizze der völkerrechtlichen Entwicklung eine bemerkenswerte Parallele in den historischen Entwicklungsdiagnosen nationaler Rechtsordnungen: Ebenso wie für das Völkerrecht führt auch im Bereich staatlichen Rechts der Übergang von formalen zu materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen zu einer zunehmenden Zukunftsorientierung des Rechts; und auch dort lautete die Diagnose, das Recht büße seine Steuerungsfähigkeit ein und der Rechtsstaat gerate in eine Krise. Die völkerrechtliche Seite dieser Parallelentwicklung samt ihrer Schwierigkeiten auszubuchstabieren und dabei exemplarisch zu beleuchten, ob die im nationalen Kontext oftmals als Ausweg angepriesene Prozeduralisierung rechtlicher Standards auch jenseits staatlicher Rechtsordnungen Abhilfe für die Makel zunehmender Zukunftsorientierung verspricht, ist Ziel des Vortrags.