Panel 1 – Zeitlicher Wandel vor Gericht


Dr. Maria Bertel


Post-Doc, Universität Innsbruck

Dr. Maria Bertel bakk. phil.; seit Mai 2016 Elise-Richter-Stelleninhaberin (Habilitationsförderung des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF); Habilitationsprojekt zum Effizienzprinzip der österreichischen Verfassung.

Studium der Rechtswissenschaften und der Philosophie in Innsbruck und Dijon; von 2010 bis 2016 Universitätsassistentin am Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre an der Universität Innsbruck; Promotion 2012 („Multilevel-Governance in Südamerika. Das Dezentralisationsmodell der peruanischen Verfassung [Nomos 2013]); Forschungsaufenthalte am Iberoamerikanischen Institut in Berlin sowie an der Universidad San Cristobal de Huamanga, Ayacucho und der Biblioteca Nacional del Peru, Lima.

„The times they are a changing“

Aspekte des „living instrument approach“ des EGMR

Mit dem Verstreichen von Zeit verändert sich auch die Gesellschaft. Dies spiegelt sich vielfach in den Rechtsordnungen der Staaten wider. Als Reflexwirkung kann sich dies auch auf die Auslegung der EMRK durch den EGMR auswirken. Der „living instrument“ Zugang erlaubt es dem EGMR nämlich, den eingangs angeführten gesellschaftlichen Wandel aufzugreifen und die EMRK den „present day conditions“ anzupassen.

Je dynamischer die Auslegung, desto eher stellt sich die Frage, ob das durch die Anwendung des „living instrument“ Zugangs erzielte Auslegungsergebnis nicht einer neuerlichen demokratischen Legitimation durch die Mitgliedsstaaten unterzogen werden müsste. Für diese Grenzziehung können der Judikatur des EGMR verschiedene Legitimationskonzepte entnommen werden, die zur Anpassung an die „present day conditions“ als primären Grund für eine dynamische Auslegung hinzutreten und die Legitimität einer weiten Auslegung stützen sollen.

In diesem Zusammenhang sind zum einen Zweckmäßigkeitsüberlegungen im Hinblick auf die Optimierung des Grundrechtsstandards zu nennen. So argumentiert der EGMR regelmäßig, dass es darum gehe, dass Konventionsgarantien „praktisch und effektiv“ wirken sollen und deshalb eine Interpretation im Lichte des erfolgten gesellschaftlichen Wandels im Sinn des „living instrument“ Zugangs legitim sei. Zum anderen ist auf die Praxis des EGMR zu verweisen, nicht nur nationalstaatliche, sondern auch internationale Regelungsstandards zur Rechtfertigung einer bestimmten Auslegung heranzuziehen.

Anhand der EGMR-Judikatur soll deshalb untersucht werden, ob und inwieweit der „living instrument“ Zugang als reflektierter demokratischer Legitimationsprozess dargestellt werden kann, der aus verschiedenen Kanälen gespeist wird.

Besonderes Augenmerk soll auf der Frage liegen, ob und falls ja, inwieweit Zweckmäßigkeits- bzw Optimierungsüberlegungen („output“) und andere internationale Standards („top down“) geeignet sind, ein durch eine dynamische Auslegungspraxis hervorgerufenes Defizit an demokratischer Legitimation zu kompensieren oder, im Gegenteil, die demokratische Legitimation zurückdrängen. Es sollen deshalb auch Überlegungen angestellt werden, wie Zweckmäßigkeitsüberlegungen und internationalen Standards Rechnung getragen werden kann, ohne dass die demokratische Legitimation darunter leidet.