Panel 1 – Zeitlicher Wandel vor Gericht


Dr. Yury Safoklov


Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fern-Universität Hagen

Geboren 1982 in Moskau. Studium der Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt (2003-2008). Referendariat am OLG Köln (2009-2011). 2011-2013 – Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für osteuropäisches Recht und Rechtsvergleichung (Lehrstuhlinhaberin: Prof. Dr. Dr. h. c. Angelika Nußberger). Seit 2013 – wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie Völkerrecht (Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. Andreas Haratsch). 2016 – Promotion zum Thema „Das Gewaltenteilungsprinzip in Russland: Die Genese eines Institutstransfers“. Seit 2017 – Habilitationsprojekt zur Wandlung des religiös-weltanschaulichen Neutralitätsgebots des Art. 4 GG in einer multikulturellen Gesellschaft. Lehrbeauftragter an der Business and Information Technology School sowie an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW.

Völkerrecht als lex aeterna?

Zur rückwirkenden Anwendung völkervertragsrechtlicher Wertungen
durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Grundsätzlich gelten völkerrechtliche Verträge ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens. Setzen die Vertragsparteien einen Spruchkörper zur Durchsetzung der aus dem Vertrag resultierenden Verpflichtungen ein, so erstreckt sich auch dessen Jurisdiktion nur auf die Zeit nach Inkrafttreten des Vertrags. Die zeitliche Begrenzung des Geltungsbereichs ratione temporis räumt den vertragsschließenden Staaten insofern die Herrschaft über die Verträge ein, als diese in die Lage versetzt werden, ihr Handeln dem Inhalt der Verträge anzupassen und ihre Politik nach den vertraglichen Geboten auszurichten.

Das Rückwirkungsverbot gilt indes nicht absolut, sondern kann in bestimmten Konstellationen Durchbrechungen erfahren. Die Ausnahmetatbestände werden mitunter richterrechtlich entwickelt, wenn der jeweilige Spruchkörper einen in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt seiner Zuständigkeit unterwerfen will. So hat etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der grundsätzlich nur über Ereignisse ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) am 3. September 1953 urteilen kann, auch solche Menschenrechtsverletzungen in seine Betrachtung einbezogen, die sich in bewaffneten Auseinandersetzungen des Zweiten Weltkriegs zugetragen haben. Beispielsweise wurde die Frage, ob die Strafbarkeit der vom Täter im Jahre 1944 ausgeführten Handlungen vorhersehbar war, am Maßstab des Art. 7 EMRK, also einer Bestimmung aus der neun Jahre später in Kraft getretenen Menschenrechtskonvention, entschieden.

Neben der politischen Explosivität solcher „Geister der Vergangenheit“ bergen sie eine Fülle anspruchsvoller und hoch umstrittener völkerrechtlicher Probleme. So lässt sich nach dem Grund für die Abweichung vom Grundsatz der ex nunc-Wirkung fragen; virulent wird hierbei das Spannungsverhältnis zwischen dem Gedanken der Gerechtigkeit und dem Prinzip des Rechtsfriedens. Tangiert werden ferner die sich aus dem Prinzip der staatlichen Souveränität ergebende Vertragsfreiheit, das Prinzip der Rechtssicherheit sowie das innerstaatlich geltende Gebot des effektiven Rechtsschutzes, welches, gepaart mit staatlichen Schutzpflichten, gebietet, dass sich der Staat vom rückwirkend geltenden völkerrechtlichen Vertrag löst bzw. diesem den Vollzug verweigert, falls seine Bürger durch die Erfassung vergangener Ereignisse rechtsschutzlos gestellt werden.