Panel 6 – Die Zukunftsorientierung des internationalen Rechts


Sué González Hauck


Unterrichtsassistentin für Völkerrecht, Universität St. Gallen

Sué González Hauck ist Doktorandin an der Universität St. Gallen, wo sie 2013 bis 2016 als Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Bardo Fassbender tätig war. Sie studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und Strasbourg und legte im Jahr 2012 die Erste Juristische Prüfung ab. Der Arbeitstitel ihrer Dissertation lautet “The concept of a legal system in the interpretation of international law”. Zu ihren Veröffentlichungen gehören “Normenkonflikte als Optimierungsprobleme? Kritik am Einsatz des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Mittel zur Harmonisierung des Völkerrechts” (in: Baade/Ehricht/Fink/Frau/Mödlner/Risini/Stirner (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, Mohr Siebeck, 2016) und, gemeinsam mit Tatjana Chionos, “Städtenetzwerke zur Krisenbewältigung – Neue Völkerrechtsakteure als Herausforderung der konstitutionellen Idee” (in: Bauerschmidt/Fassbender/Müller/Siehr/Unseld (Hrsg.), Konstitutionalisierung in Zeiten globaler Krisen, Nomos, 2015).

Die Idee des Fortschritts in der Debatte um die Beschränkung des Veto-Rechts

Seit etwa 25 Jahren wird intensiv über eine Reform des UN-Sicherheitsrats und des Veto-Rechts der ständigen Mitglieder diskutiert. Initiativen, die sich für eine informelle Beschränkung des Veto-Rechts in Fällen humanitärer Krisen aussprechen, haben in den letzten Jahren breiten Zuspruch gewonnen. Die Rede ist insbesondere von einer Initiative Frankreichs und Mexikos, die vorsieht, dass sich die ständigen Mitglieder freiwillig verpflichten, von dem Veto-Recht in Fällen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und massiven Menschenrechtsverletzungen keinen Gebrauch zu machen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch der von der sogenannten „Accountability, Coherence, and Transparency“ Gruppe verabschiedete „Code of Conduct“.

Ziel des vorgeschlagenen Beitrags ist eine Analyse dieser Initiativen unter dem Gesichtspunkt der Idee des Fortschritts als Argumentationsfigur. Diese Analyse basiert im Wesentlichen auf den Ausführungen von Altwicker und Diggelmann, die sich mit der Konstruktion des Fortschritts in der Völkerrechtswissenschaft auseinandergesetzt haben. Altwicker und Diggelmann identifizieren vier akzeptierte Techniken, mit denen sich Argumente über Fortschritt im Völkerrecht und Fortschritt durch Völkerrecht erfolgreich vorbringen lassen.

Der vorgeschlagene Beitrag legt diese Erkenntnisse zu Grunde und soll darauf aufbauend zwei Hauptthesen plausibilisieren: Erstens lässt sich der (relative) Erfolg von Initiativen, die auf eine informelle Beschränkung des Veto-Rechts in Fällen humanitärer Krisen abzielen, teilweise damit erklären, dass diese Initiativen anerkannte Techniken einsetzen, mit denen sie sich als fortschrittlich positionieren können. Zweitens ist zu erwarten, dass die genannten Initiativen Einfluss ausüben werden auf die Auslegung des Art. 27 UN Charta.

Der vorgeschlagene Beitrag gliedert sich in drei Teile.

Der erste Teil gibt einen kurzen Überblick über verschiedene Vorschläge für eine Reform des Veto-Rechts, über die Argumente, mit denen für die jeweiligen Vorschläge geworben wird und über die Resonanz, die verschiedene Vorschläge erhalten haben. Es wird aufgezeigt, dass Vorschläge, die eine informelle und wertebasierte Beschränkung des Veto-Rechts zum Ziel haben, auf breite und positive Resonanz gestoßen sind, während das anderen Vorschlägen nicht gelingen konnte.

Der zweite Teil zeigt auf, dass sich diese erfolgreichen Initiativen auf alle von Altwicker und Diggelmann genannten Techniken zur Konstruktion von Fortschritt stützen können, nämlich (i) aufsteigende Periodisierung, (ii) Nachweis zunehmender Werteorientierung des Völkerrechts, (iii) ‚trend-talk‘ und (iv) Aufzeigen von Paradigmenwandeln. Es soll dabei auch plausibilisiert werden, dass es neben anderen Faktoren auch diese Techniken sind, die den Initiativen zu Erfolg verholfen haben und weiterhin verhelfen.

Der dritte Teil befasst sich näher mit Interpretationstechniken, die an die Idee des Fortschritts anknüpfen. Im Zentrum stehen dabei die dynamische Auslegung und die Auslegung der UN-Charta als Verfassung der internationalen Gemeinschaft. Ziel ist es aufzuzeigen, wie die Initiativen, die eigentlich eine freiwillige Selbstbeschränkung der ständigen Mitglieder zum Gegenstand haben, die Auslegung des Art. 27 UN-Charta beeinflussen und so zu rechtlicher Verbindlichkeit gelangen können.